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Channel: Sonja Jaskot – Evangelische Landjugendakademie Altenkirchen
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Soziale Ungerechtigkeit und Solidarität – die Ambivalenz der ländlichen Räume

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Im Zusammenhang mit der Internationalen Grünen Woche rückt auch der ländliche Raum mit seinen Dörfern und Kleinstädten in die öffentliche Aufmerksamkeit. Dörfer als ideale Produktionsstandorte für die günstige Nahrungsversorgung der Stadtbevölkerung!? Die Bilder ländlicher Idylle entsprechen eher nicht der Realität. Weder in- noch außerhalb der Ställe. Die Anzahl der bäuerlichen Familienbetriebe ist rapide gesunken, landwirtschaftliche Unternehmen und Dorfbevölkerung sind entkoppelt, wenn nicht sogar im Widerstreit, besonders im Osten der Republik, wie das erfolgreiche Volksbegehren gegen Massentierhaltung in Brandenburg zeigte. Wenn durchschnittlich nur 0,7% der Wertschöpfung oder vereinzelt noch 10% der Arbeitsplätze im Dorf aus der Landwirtschaft kommen, fehlt der Bezug auch zwischen Bauern und Dorfgemeinschaft. Aktuelle Studien zeigen sogar, dass die Dorfbevölkerung Landwirtschaft als störenden Faktor sieht, noch vor der Windkraft.

Das Dorf generiert also seine Identifikation, Lebensqualität und nachhaltige Entwicklung auf andere Grundlagen. In Bundesländern wie Rheinland-Pfalz ist die Stimme der Dörfer dank Kommunalverfassung, aktiver Kommunalpolitik und engagierter Dorfbevölkerung noch stark. Auch im Bergischen Land und Südwestfalen sind sie – dank Unterstützung durch Landkreis und Regionalagenturen – aktiv und lebendig. Woanders verfügen Dörfer und Gemeinden aber nicht mehr über ein eigenes Budget und haben keine Stimme in der Planung. Dem wird durch informelle Entwicklungspläne wie ILE, IGEK und IKEK (in Hessen und NRW) versucht entgegen zu wirken. Und anders als in Skandinavien sind die Dörfer bei uns nur sehr begrenzt in überregionalen Bewegungen organisiert (siehe Bundesverband Dorfbewegung, Bundesverband der Regionalbewegung).

Dass es auf dem Land „brodelt“, haben im letzten Jahr die Wahlergebnisse der AfD von Vorpommern über den Westerwald bis zum Schwarzwald deutlich gemacht (Bertelsmann 2016, CEPS 2016). Die Globalisierungs- und Wohlstandsverlierer artikulieren und formieren sich auch am rechten Rand wieder. Die Wahlergebnisse oder der Brexit sind mehr als nur Politikverdrossenheit, sie weisen auf soziale Ungerechtigkeiten und deutliche Defizite gesellschaftlicher Teilhabe unabhängig von Alter und Bildungsstand hin. (Kersten/Neu/Vogel 2015)

Ob der immer wieder beschworene, aber nicht realisierte Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse Lösungen wie z.B. eine Gemeinschaftsaufgabe Regionale Daseinsvorsorge (aktuell FES RLP 2016) bringt, wird, zumindest von Regionalwissenschaftlern, bezweifelt (BBSR-Online 02/2013). Und neueste Fakten zeigen nicht nur zwischen Stadt und Land eine Zunahme regionaler Wohlstandsunterschiede, sondern auch starke Disparitäten im ländlichen Raum.

Die Fragen, wie ein moderner Wohlfahrtsstaat mit diesen Herausforderungen umgeht, und was kirchliche und diakonische Einrichtungen zur sozialen Gerechtigkeit auf dem Land beitragen, werden wir gerade im Jahr der Bundestagswahl in öffentliche Diskurse auf kirchlicher und politischer Ebene einbringen.

Was bleibt den Dörfern, um sich im regionalen Wettbewerb und im demografischen Wandel zu behaupten? Das Ehrenamt wird allerorten als Allheilmittel genannt, wenn es um Versorgungslücken, fehlenden ÖPNV oder die Dorfkultur geht. So feiert der sogenannte Dorfkümmerer eine Wiederauferstehung, in manchen Bundesländern gibt es noch, aber immer weniger, Gemeinde- und Jugendpfleger. Auch Pfarrer/innen und Landärzte können diese Rolle nicht mehr ausüben. Zwar wird mittlerweile einiges zur Anerkennung, Förderung und Organisation des Ehrenamtes getan. Ein anderer Weg ist der Aufbau sorgender Gemeinschaften, welcher über den Ansatz von Wohngruppen und Mehrfamilienhäusern hinausgeht. Als Landbewohner/In nimmt man Standortnachteile bewusst in Kauf, aber will man zu noch mehr Leistung im Ehrenamt gefordert werden? Die Engagementforschung zeigt, dass auch hier viele traditionelle Strukturen im Wandel sind. Die Evangelische Landjugendakademie hat sich deshalb die Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements und den deutlichen Bedarf an Unterstützung selbstverantwortlichen Handelns auf lokaler Ebene zu eigen gemacht. Orientiert an erfolgreichen Konzepten wie dem BIBER-Projekt im Ev. Dekanat Vogelsberg, dem Dorfmoderator im LK Göttingen und den SPESS-Modellen „Lebensqualität durch Nähe“ werden wir bestehendes Bürgerengagement ab April durch eine Fortbildung in vier Modulen mit Praxiscoaching unterstützen und begleiten. Zielgruppe sind LEADER-Akteure in den drei Westerwaldkreisen, durch die endogene Dorfpotenziale gestärkt und frühzeitig auf den demografischen Wandel vorbereitet werden sollen. Die Teilnehmenden erhalten das Zertifikat „Dorfaktivierer“. Weitere Informationen zur dieser Fortbildung unter http://www.lja.de/Veranstaltung/landschaft-im-wandel-gesellschaft-im-wandel/

Publikation des Bundesministeriums BMEL 2015: „Ländliche Regionen verstehen.

Fakten und Hintergründe zum Leben und Arbeiten in ländlichen Regionen.“

https://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BMELV/LR-verstehen_5814332.html

Bild: LJA, Dosch


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